Sinnsuche in Krisenzeiten: Wie geistliche Begleitung Halt geben kann
Die Kriege in Nahost und der Ukraine, der immer dramatischer voranschreitende Klimawandel, die zunehmende gesellschaftliche und politische Verrohung: Der Zustand der Welt macht vielen Menschen Angst. Immer stärker breitet sich das Gefühl aus, dass die Dauerkrise "das neue Normal" ist und alles immer nur schlimmer wird. Viele Menschen stellen sich angesichts dieser Lage existenzielle Fragen: Was wird aus meinem Leben und dem Leben meiner Kinder? Wohin steuern unsere Gesellschaft und unsere Welt? Welche Werte haben angesichts der rasanten globalen Veränderungen in Zukunft überhaupt noch Bestand?
Fragen und Unsicherheiten dieser Art lassen immer mehr Menschen nach professioneller Unterstützung suchen. Die Nachfrage nach psychotherapeutischen Behandlungen etwa ist in den vergangenen Jahren bundesweit stark angestiegen, viele Therapeuten arbeiten mit ihren Praxen längst am Limit. Die Folge: Viele Menschen müssen lange auf Behandlungstermine warten, viele Ängste bleiben monate- und manchmal sogar jahrelang unbehandelt.
"Viele Menschen brauchen dringend geistliche Begleitung"
Auch in der katholischen Kirche spürt man den gewachsenen Bedarf an Unterstützung. Trotz sinkender Mitgliedszahlen und einer schwindenden kirchlichen Bindung berichten viele Seelsorger von einer Zunahme von Anfragen nach individueller seelsorglicher Begleitung. "Viele Menschen brauchen dringend geistliche Begleitung, Hilfe, um sich in einer immer komplizierteren und sich rasch verändernden Welt zurechtzufinden", so der tschechische Theologe und Priester Tomas Halik im Oktober vergangenen Jahres in der "Herder Korrespondenz". Um den Bedarf an qualifizierten Begleiterinnen und Begleitern zu decken sei es daher notwendig, "qualitativ hochwertige Kurse für die Ausbildung von Laien für die geistliche Begleitung" anzubieten.
„Der Fachdienst Geistliche Begleitung dient der Wahrnehmung, Klärung und Unterscheidung dessen, was sich im eigenen Leben an äußeren und inneren Bewegungen zeigt und wie die je eigene persönliche Gottes- und Christusbeziehung vertieft werden kann.“
Die deutschen Bistümer haben diesen Bedarf erkannt und teilweise schon vor Jahren entsprechende Angebote konzipiert. "Die Anfragen nach individueller Begleitung von Menschen nehmen zu und damit auch nach Menschen, die Wege begleiten und gemeinsam in einem geistlichen Horizont erschließen", begründet etwa der Dresdner Bischof Heinrich Timmerevers das kirchliche Engagement bei diesem Thema. Seine Diözese nehme diese Herausforderungen sehr ernst und wolle ihren Beitrag dazu leisten, dass fragende und suchende Menschen persönlich Antworten auf die Sinnfragen des Lebens und Glaubens fänden.
Ebenso wie andere deutsche Diözesen hat das Bistum Dresden-Meißen schon vor längerer Zeit einen Fachdienst Geistliche Begleitung ins Leben gerufen – einen "Dienst für Menschen, die auf ihrem persönlichen Reifungs- und Glaubensweg die eigene Gottes- und Christusbeziehung entdecken und vertiefen wollen", wie Timmerevers es ausdrückt. Anfang April hat er im Rahmen einer Heiligen Messe in der Kathedrale des Bistums in Dresden 18 Frauen und Männer nach Abschluss ihrer Ausbildung mit dem Dienst als Geistliche Begleiter beauftragt und sie gesegnet. Die Begleitung solle "Raum eröffnen, dass der Herr eintreten kann in das Leben eines Menschen", sagte Timmerevers in seiner Predigt. Die Beauftragten ermutigte er dazu, "Hilfestellung anzubieten, auf die Stimme Gottes zu hören".
Die eigene Lebensgeschichte besser verstehen und annehmen
Zuständig für die Ausbildung im Bistum ist Schwester Petra Maria Brugger. "Der Fachdienst Geistliche Begleitung dient der Wahrnehmung, Klärung und Unterscheidung dessen, was sich im eigenen Leben an äußeren und inneren Bewegungen zeigt und wie die je eigene persönliche Gottes- und Christusbeziehung vertieft werden kann", erklärt die Franziskanerin. Der Dienst solle dabei unterstützen, die eigene Lebensgeschichte besser zu verstehen und anzunehmen, darin die Spuren Gottes zu entdecken und neue Lebensmöglichkeiten zu erkennen.
Brugger bestätigt im Gespräch mit katholisch.de den Eindruck, dass es mehr Anfragen nach Begleitung durch Geistliche Begleiterinnen und Begleiter gibt – auch im wenig religiös geprägten Osten Deutschlands. "Wir erleben hier Menschen, die zuvor allein versucht haben, mit den Brüchen in ihrem Leben und den großen Fragen, die sie bedrängen, fertig zu werden – die dann aber die Erfahrung gemacht haben, dass sie allein nicht weiterkommen und die sich deshalb Hilfesuchend an die Kirche wenden." Teilweise fragten auch Menschen nach einer Begleitung, die mit der Institution Kirche sonst eigentlich fremdelten – kirchlichen Begleiterinnen und Begleitern aber eine hohe Kompetenz zusprächen und sich von ihnen Hilfe erhofften.

"Die Anfragen nach individueller Begleitung von Menschen nehmen zu", so Dresdens Bischof Heinrich Timmerevers.
Sinn der Geistlichen Begleitung ist es laut der Franziskanerin, die Menschen bei der Suche nach Antworten auf ihre Fragen zu unterstützen – und nicht, ihnen fertige Antworten vorzugeben. "Die Menschen sollen so begleitet werden, dass sie ihre eigene Gottesbeziehung verlebendigen, ihren eigenen Weg finden und ihre eigene Entscheidung treffen können. Es geht nicht darum, ihnen Vorgaben zu machen, was sie tun oder lassen sollen." Das sei auch der größte Unterschied der Geistlichen Begleitung zu klassischen Seelsorgegesprächen. Diese seien in der Regel anlassbezogen und suchten nach konkreten Lösungsmöglichkeiten für das aktuelle Thema oder Problem.
Geistlich begleiten lassen können sich nach Angaben von Brugger "grundsätzlich alle Menschen, die auf der Suche sind". Bei einem obligatorischen Vorgespräch mit einem Begleiter oder einer Begleiterin werde als erstes geklärt, welches Anliegen die Person, die die Begleitung wünsche, habe. Anschließend würden der Fokus für die Gespräche vereinbart und zunächst drei Termine vereinbart. "Nach diesen drei Gesprächen schauen beide Seiten noch einmal, ob das Setting der Gespräche passt oder Veränderungen vorgenommen werden sollten. Denn Geistliche Begleitung ist prozessorientiert und in der Regel auf einen längeren Zeitraum ausgelegt", erläutert die Ordensfrau.
Fundierte Ausbildung zur Geistlichen Begleitung erforderlich
Die Gespräche selbst dauern meist eine Stunde und finden in der Regel alle vier Wochen statt. "Je nach Person und je nach Begleitsituation beginnt man jedes Gespräch mit einer Phase der Stille oder einem Gebet. Das wird vorher aber immer mit der Person abgesprochen", sagt Brugger. Danach beginne die Person darüber zu sprechen, welche Ängste oder Fragen sie umtrieben. "Da können alle Krisen und Konflikte, die der Person unter den Nägeln brennen, angesprochen werden." Anschließend gehe es darum, im gemeinsamen Gespräch über das Gesagte zu reflektieren und "Wachstumsmöglichkeiten" im Lichte des Evangeliums zu entdecken. "Die Geistliche Begleitung ist eine gemeinsame Suchbewegung des Begleiters und der begleiteten Person, um dieser dabei zu helfen, eigene lebensbezogene Entscheidungen zu treffen."
Das zeigt deutlich: Die Aufgabe als Begleiter oder Begleiterin bringt eine große Verantwortung mit sich, schließlich greift man aktiv in das Leben einer anderen Person ein. Damit das auf einer soliden Basis geschieht, braucht es eine fundierte Ausbildung, in der es neben theologischen Fragen, geistlichen Übungen und Gottesbildern unter anderem auch um Wissensvermittlung über Gesprächsführung, psychologische Perspektiven und Fragen von Nähe und Distanz geht – auch, um geistlichem oder spirituellem Missbrauch vorzubeugen.
„Nach den Spuren Gottes, nach mehr Leben, mehr Liebe, mehr Hoffnung zu suchen, ist die Aufgabe von jedem und jeder von uns. Und die Geistliche Begleitung ist eine der vielen Möglichkeiten, dies zu tun.“
Eine der Begleiterinnen, die den Dresdner Ausbildungskurs absolviert hat und jetzt von Bischof Timmerevers beauftragt wurde, ist Natalia Priseajniuc. Ihre Motivation für die Ausbildung sei es gewesen, sich "in den Dienst für andere Menschen zu stellen, die auf der Suche sind, ihre Beziehung zu Gott zu intensivieren und seine Spuren im eigenen Leben zu entdecken", erzählt sie katholisch.de. Priseajniuc, die hauptberuflich als Krankenhausseelsorgerin arbeitet, ist davon überzeugt, dass das Angebot der Geistlichen Begleitung gut in die gegenwärtige Zeit passt – "gerade jetzt, wo sich bei vielen Menschen Fragen zur Situation in der Welt, in diesem Land, aber auch oft zum eigenen Umfeld melden". Wo es "viel Frust, Wut und Angst" gäbe, sei es wichtig, den Fokus auf die Ursachen zu lenken und nach dem Licht hinter den negativen Erfahrungen zu suchen. "Wir Christen leben in der Überzeugung, dass Gott immer am Werk ist, dass wir jeden Tag dem Reich Gottes näherkommen können. Nach den Spuren Gottes, nach mehr Leben, mehr Liebe, mehr Hoffnung zu suchen, ist die Aufgabe von jedem und jeder von uns. Und die Geistliche Begleitung ist eine der vielen Möglichkeiten, dies zu tun."
"Gott in allen Dingen suchen und finden"
Als besonders wichtig war Priseajniuc während der Ausbildung die Erfahrung, dass es nicht nur um Wissenszuwachs oder das Erlernen von Fertigkeiten gegangen sei, sondern um das Einüben von Haltungen und Einstellungen. "Wir haben viel praktisch gearbeitet. Es ging darum, im Hier und Jetzt zu sein, auf die erlebte Wirklichkeit zu reagieren und nicht auf vorgefertigte Formulierungen zurückzugreifen." Mit der Ausbildung sei ihr ein stabiles Fundament mitgegeben worden, auf dem ein Haus entstehen könne. "Wichtig ist für mich, dass jede Geistliche Begleitung davon lebt, sich gemeinsam auf den Weg zu machen und mit Gott fest zu rechnen."
Ihre Aufgabe als Begleiterin beschreibt Priseajniuc als die einer wachsamen und aufmerksamen Zuhörerin. Es gehe darum, in den Gesprächen Geduld zu haben, im Moment zu bleiben und auch kleine Bewegungen und Regungen in ihr selbst und der Person, die ihr gegenübersitze, wahrzunehmen. Gemäß dem bekannten Ausspruch "Vier Augen sehen mehr als zwei" wolle sie all das, was sie in den Gesprächen höre und sehe, zur Verfügung stellen. "Als Leitwort für die Aufgabe als Geistliche Begleiterin steht für mich der Satz von Ignatius von Loyola: 'Gott in allen Dingen suchen und finden'", so Priseajniuc.