Studie zeigt Ausmaß vom Missbrauch in Kinderheimen im Bistum Speyer
Beim Lesen der 473-seitigen Aufarbeitungsstudie zu sexuellem Missbrauch im Bistum Speyer ist Bischof Karl-Heinz Wiesemann nach eigenen Worten immer wieder ins Stocken geraten. Insbesondere bei den Schilderungen der Betroffenen, "welch himmelschreiendes Unrecht und Leid ihnen angetan wurde, gerade auch in den in der Studie als Hotspots identifizierten kirchlichen Heimen".
Wiesemann sprach von einem tief beschämenden Geschehen in der Geschichte des Bistums mit teils eklatantem Leitungsversagen, vor allem in den 1950er und 1960er Jahren. Der seit 2008 amtierende Bischof sagte: "Ich kann nur aus ganzem Herzen um Vergebung bitten."
Parallele Missbrauchsstrukturen
In der unabhängigen Studie von Wissenschaftlerinnen der Universität Mannheim unter Leitung der Historikerin Sylvia Schraut werden sechs frühere "Missbrauchshotspots" exemplarisch beschrieben: Das Konvikt Sankt Ludwig in Speyer, das Jugendwerk Sankt Josef in Landau-Queichheim, das Kinderheim Sankt Nikolaus in Landstuhl, das Nardinihaus in Pirmasens, das Kinderheim in der Engelsgasse in Speyer und das Johanneum in Homburg/Saar. Die Studie sieht dort für die beiden Nachkriegsjahrzehnte jeweils "parallele Strukturen, die sexuellen Missbrauch und Vertuschung begünstigten".
Die Heimleitungen und die Erzieherinnen standen demnach für "sehr ausgeprägte und strenge Hierarchien". Auf eine einzelne Person sei eine Fülle an Befugnissen konzentriert gewesen, was in den Heimen ein massives Machtgefälle geschaffen habe – mit drastischen Strafen für vermeintliches Fehlverhalten. In manchen Fällen seien Kinder gezwungen wurden, Erbrochenes wieder vollständig aufzuessen, aber auch "Essensentzug" sei als Strafe eingesetzt worden ebenso wie Demütigungen vor aller Augen für das Bettnässen, heißt es in der Studie. "Die Kinder und Jugendlichen waren dem System von Willkür und Autorität vollkommen ausgeliefert und hatten keine Chance, dagegen anzukommen."
Üblicherweise hätten die Heimleiter zudem weitere Funktionen innegehabt: "Personalführung, Dienstüberwachung, Seelsorge, pädagogische und wirtschaftliche Leitung." Nicht selten seien sie auch die einzigen internen Beschwerdestellen gewesen. Da solche Personen mit Leitungsfunktion zugleich oft auch Missbrauchsbeschuldigte seien, "wird deutlich, wie nutzlos interne Meldewege waren", so die beim Kapitel Heimerziehung federführende Wissenschaftlerin Katharina Hoffmann.

Historikerin Sylvia Schraut ist Leiterin der Studie zu sexuellem Missbrauch im Bistum Speyer.
Überdies seien die Heimleitungen in der Regel die einzigen Ansprechpersonen für Behörden und Medien gewesen: "Dies machte es den Kindern und Jugendlichen fast unmöglich, sich aus dem streng hierarchischen System des Heimalltags zu lösen und bei externen Stellen Gehör zu finden." Erst in den 1970er Jahren seien "die absoluten Hierarchien des Heimalltags etwas aufgebrochen" worden: Teilweise wurden Leitungsteams, Elternbeiräte oder Vertretungen der Kinder und Jugendlichen eingerichtet.
Zuvor habe die externe Kontrolle versagt, angesichts "enger Kontakte der Heimleitungen mit den einschlägigen Behörden". Auch an Kontrollmechanismen des Bistums habe es gemangelt. "Zwar waren Repräsentanten des Bistums in einigen Verwaltungs- beziehungsweise Stiftungsräten der Heime vertreten und der Bischof musste verschiedene Beschlüsse genehmigen", hieß es. "Allerdings fanden Missbrauch und Gewalt überwiegend intern statt und gelangten damit mutmaßlich gar nicht erst vor die Räte."
Generalvikar prüft nun Aufsichtspflichten
Ein weiteres Strukturproblem in den Heimen sei "die Anwendung von massiver Gewalt" gewesen, heißt es in der Studie. "Nicht selten war Gewalt das Mittel der Wahl zur Maßregelung der Kinder und Jugendlichen." Ordensleute seien in den Heimen oft ohne pädagogische Ausbildung und ohne staatliche Anerkennung als Erzieherinnen oder Erzieher tätig gewesen, weshalb der Schluss auf Überforderung naheliege, zumal die Wohngruppen zum Teil sehr groß gewesen seien.
"Um das extrem übersteigerte Maß an Gewalt bis hin zu Gewaltexzessen und die Anwendung folterähnlicher Methoden zu erklären, reichen solche Überlegungen jedoch nicht aus", so Hoffmann. Psychische und körperliche Gewalt hätten auch dazu beitragen können, "die Betroffenen daran zu hindern, den Missbrauch offenzulegen".
Der Speyerer Generalvikar Markus Magin unterstrich mit Blick auf die kirchlichen Heime – "soweit es sie heute noch gibt" – die kirchlichen Aufsichtsverpflichtungen des Bistums. "Auf dem Hintergrund der Studienergebnisse werde ich eine erneute, sehr genaue Prüfung veranlassen, welche Aufsichtsrechte und Aufsichtspflichten sich heute für die verschiedenen caritativen Einrichtungen der unterschiedlichen Rechtsträger im Zusammenspiel mit diesen Trägern selbst wie auch mit den Jugendämtern ergeben", kündigte Magin an. Diese Prüfung soll noch vor den Sommerferien 2025 abgeschlossen werden.