Die Glockenbörse sucht neue Besitzer für alte Kirchenglocken

Wer eine Kirche schließt, sollte früh genug an die Glocken denken

Veröffentlicht am 07.06.2025 um 12:00 Uhr – Von Beate Kampen – Lesedauer: 
Zwei Männer halten eine Glocke, die an einem Kran hängt.
Bild: © privat

Salzgitter/Bonn ‐ Vor zehn Jahren haben es sich zwei Glockensachverständige zur Aufgabe gemacht, ein neues Zuhause für ausgemusterte Kirchenglocken zu finden. Daraus wurde ein Netzwerk, das über Ländergrenzen hinweg Kirchengemeinden mit Glocken versorgt.

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Vor rund zehn Jahren blieb der Blick von Sebastian Wamsiedler an einem Bild hängen, das ihn nicht mehr losließ: In der Zeitung sah er einen abgerissenen Kirchturm – mittendrin eine zerbrochene Glocke. "Offensichtlich hatte niemand an die Glocken gedacht", dachte sich der Glockensachverständige. Für ihn war das ein Wendepunkt. Er wollte verhindern, dass Glocken bei Kirchenschließungen einfach eingeschmolzen werden.

Schon als Jugendlicher hat sich Wamsiedler für das besondere Klanggemenge von Glocken interessiert. Die Mischung aus Musik, Architektur und Historie begeisterte den Salzgitteraner. Er besuchte die Hochschule für Kirchenmusik in Regensburg und Halle (Saale) und ließ sich zum Glockensachverständigen ausbilden. Der 44-Jährige reist heute als Freiberufler von Bistum zu Bistum und von Landeskirche zu Landeskirche, um Glocken zu reparieren, zu stimmen und zu pflegen. Seine Lebensaufgabe lautet: "das Kulturgut Glocke erhalten".

In seinem Beruf hat er immer wieder mit Kirchenschließungen zu tun. Seine größte Sorge dabei: Die Glocken werden einfach irgendwo eingelagert oder eingeschmolzen. "Dabei können die Glocken bei richtiger Pflege mehrere Hundert Jahre alt werden", sagt Wamsiedler. Sie seien viel zu schade, um sie einfach aufzugeben, nur weil eine Kirche abgerissen wird oder sich ein neuer Besitzer an den Glocken im Turm stört.

Sebastian Wamsiedler vor einer Kirchenglocke
Bild: ©Siegfried Krause

Sebastian Wamsiedler ist begeisterter Glockensachverständiger.

Da immer wieder gebrauchte Orgeln an andere Kirchengemeinden oder Privatpersonen verkauft werden, dachten sich Wamsiedler und sein Kollege Matthias Braun: "Vielleicht lassen sich auch Glocken weitervermitteln." Die beiden Glockensachverständigen beschlossen, eine Verkaufsplattform für gebrauchte Kirchenglocken aufzubauen. Die Glockenbörse war geboren. Doch zunächst stießen sie auf Skepsis. "Keiner konnte sich vorstellen, dass es überhaupt Käufer für gebrauchte Kirchenglocken gibt", erinnert sich der Experte. Er und sein Kollege blieben aber hartnäckig. Sobald sie von einer Kirchenschließung hörten, traten sie mit der Gemeinde in Kontakt. "Wir fragten, ob sie schon wissen, was mit ihren Glocken mal passieren soll."

Dabei galt es auch, Vertrauen bei den Kirchengemeinden, Landeskirchen und Bistümern aufzubauen. "Die Glocken sind schließlich ein liturgisches Instrument, das einen besonderen Schutzstatus genießt", erklärt der 44-Jährige. Er und sein Kollege wollten nicht den Eindruck erwecken, als würden sie mit den historischen Klangkörpern nur Geld verdienen wollen. "Unser Anliegen ist es, Glocken dahin zu bringen, wo sie weiter gebraucht werden", sagt Wamsiedler.

„Glocken werden leider regelmäßig vergessen und verbleiben dann stumm in den Glockentürmen oder werden eingeschmolzen.“

—  Zitat: Sebastian Wamsiedler

Wenn Gemeinden ihre Glocken abgeben wollen, nimmt die Glockenbörse diese zunächst genau unter die Lupe: Technische und musikalische Daten werden erhoben, Fotos gemacht. Wenn alles passt, kommt ein Kaufangebot auf die Website. Bis zu einer Vermittlung bleiben die Glocken im Besitz der jeweiligen Kirchengemeinde. "Wir selbst kaufen keine Glocken", betont Wamsiedler. Auch die Entscheidung, an wen verkauft wird, liegt weiterhin bei der Gemeinde. Aufgabe der Glockenbörse ist es, passende Matches zu finden – sowohl musikalisch als auch architektonisch muss die neue Heimat zur Glocke passen. Zusätzlich kümmern sich Wamsiedler und Braun um die Preisverhandlungen sowie die Organisation von Demontage und Transport.

Doch bis eine Glocke ihr neues Zuhause erreicht, kann viel Zeit vergehen. In dieser Zeit sollen die Glocken im besten Fall noch in der Kirche hängen. Dort sind sie warm und trocken gelagert und Interessenten können sie vor Ort anschauen. Deshalb appelliert Wamsiedler bei Kirchenschließungen, frühzeitig über die Glocken nachzudenken. Denn wenn erst wenige Wochen vor dem Abriss der Kirche auffällt, dass noch ein Platz für die Glocken gefunden werden muss, ist es meist schon zu spät. "Glocken werden leider regelmäßig vergessen und verbleiben dann stumm in den Glockentürmen oder werden eingeschmolzen", so der 44-Jährige. 

Über Ländergrenzen hinweg werden Glocken vermittelt

Wer aber kauft eigentlich eine alte Kirchenglocke? "Unser Markt sind ganz klar Kirchengemeinden", sagt der Glockenbörsengründer. In den vergangenen zehn Jahren hat die Glockenbörse europaweit die schweren Instrumente vermittelt. "Von Island bis nach Spanien, von den Benelux-Ländern bis in die Ukraine", zählt Wamsiedler auf. Einzelne Glocken gingen sogar nach Indien, Ghana oder Nigeria. Etliche der großen Instrumente würden aber auch in Deutschland bleiben, wo sich immer noch Glockenverluste aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges zeigen.

Damals wurden viele Bronzeglocken eingeschmolzen. Besonders in den ostdeutschen Bundesländern wurden teilweise bis heute keine neuen Glocken angeschafft. In der Nachkriegszeit ersetzten viele Gemeinden ihre Verluste durch günstigere Modelle aus Eisen, die mittlerweile rosten und ersetzt werden müssen. "Die Gemeinden überlegen sich dann, was sie sich leisten können", sagt Wamsiedler. Neue Glocken sind teuer – schnell kosten sie mehrere zehntausend Euro. Eine gebrauchte ist laut Wamsiedler oft 50 bis 60 Prozent günstiger.

Bei internationalen Vermittlungen stößt die Glockenbörse auf besondere Herausforderungen. Denn den Beruf des Glockensachverständigen gibt es in vielen Ländern nicht. Die beiden Männer versuchen dann, aus der Ferne herauszufinden, was für Glocken die Kirchengemeinden suchen und welche überhaupt in ihre Gotteshäuser passen. "Mit vielen Fotos, Videos und Ausmessungen, die die Kirchengemeinden unter Anleitung durchführen, tun wir dann von Deutschland aus unser Bestes", sagt Wamsiedler.

Ein Pferdewagen zieht Glocken einen Berg hinauf.
Bild: ©Dominik Malovrh

In Sednik in Slowenien wurde zur Einweihung der neuen Kirchenglocken ein großen Ferst veranstaltet.

Mittlerweile verfügt die Glockenbörse über eine große Kartei von suchenden Gemeinden, die auf ein Angebot warten. Bis eine für sie passende Glocke gefunden wird, können durchaus zwei bis drei Jahre vergehen. Umso größer ist die Freude auf allen Seiten, wenn eine Vermittlung gelingt. "Für die abgebenden Gemeinden ist es ein Trost, dass die eigenen Glocken ein zweites Leben bekommen", erzählt Wamsiedler.

Fast nach jeder Vermittlung bekommen er und sein Kollege Bilder und Videos aus den Käufergemeinden. Er erinnert sich an eine Vermittlung nach Slowenien: Vor einer Kirche, die mitten auf einem Berg stand, wurde ein großes Festzelt aufgebaut. Die Glocken kamen mit Blumen geschmückt auf einem Pferdefuhrwerk. Die ganze Gemeinde war versammelt und der Bischof segnete die Glocken aus Deutschland. "Das ist wirklich schön, solche Geschichten miterleben zu dürfen", sagt er lächelnd.

Jede vermittelte Glocke ist für den Katholiken Warmsiedler ein kleines Trostpflaster. Denn jede geschlossene Kirche macht ihn traurig. Er glaubt nicht, dass sich an dieser Entwicklung noch etwas ändern lässt. "Ich kann nur dafür sorgen, dass zumindest Teile der Kirchen, die uns wichtig sind, nicht einfach im Depot verstauben – sondern von Leuten weitergenutzt werden, die Freude an ihnen haben", sagt Wamsiedler. Er hofft so, ein kleiner Baustein zu sein bei der großen Aufgabe, verantwortungsvoll mit dem Erbe von Kirchen umzugehen.

Von Beate Kampen