Wohin steuert der Vatikan unter Leo XIV.?
Auch wenn Leo XIV. erst wenige öffentliche Auftritte hatte und nur eine Handvoll Predigten und Ansprachen gehalten hat, zeichnen sich bereits einige klare Linien seines - vermutlich langen - Pontifikats ab. Daneben bleiben etliche andere Fragen völlig offen.
1. Kontinuität mit Franziskus. Leo XIV. hat sich in einigen Punkten explizit in die Kontinuität der Lehren und Entscheidungen seines Vorgängers gestellt. Das gilt für die Förderung von Frauen in vatikanischen Führungsämtern ebenso wie für seine Würdigung der Umwelt-Enzyklika "Laudato si" von 2015. Der erste US-Amerikaner auf dem Stuhl Petri ist also offenbar weder ein Frauenverachter noch ein Klimaleugner. Auch die von Franziskus neu belebte und erweiterte Synodalität in der Kirche und das Zugehen auf andere Konfessionen und Religionen will er fortsetzen.
2. Kontinuität mit Vorgängerpäpsten. Ohne sie ausdrücklich zu zitieren, greift der neue Papst aber auch immer wieder auf Kerngedanken der beiden Päpste vor Franziskus zurück. Mit Karol Wojtyla verbindet ihn die Wiederbelebung der missionarischen Dynamik der Kirche. Und mit Joseph Ratzinger die Wertschätzung für die transzendente Dimension der Liturgie und das sanfte Betonen der kirchlichen "Wahrheit", die aus seiner Sicht gleichberechtigt neben der Liebe und der Sorge für alle Menschen stehen soll. Überraschend oft zitiert Leo den früh verstorbenen "lächelnden Papst" Johannes Paul I. (1978).
3. Ausgleich zwischen den Flügeln der Kirche. Die unter Benedikt und Franziskus gewachsene Polarisierung in der Kirche und zwischen theologischen Strömungen war in den Versammlungen der Kardinäle vor dem Konklave ein zentrales Thema. Dass er die Einheit der Kirche fördern will, damit diese zu einem Vorbild in einer zerstrittenen Welt werden kann, ist die bislang klarste und weitreichendste Ansage des neuen Papstes in seinen ersten Wochen.

Papst Franziskus ernennt Robert Francis Prevost, Präfekt des Dikasteriums für die Bischöfe und Präsident der Päpstlichen Kommission für Lateinamerika, am 30. September 2023 auf dem Petersplatz im Vatikan zum Kardinal.
4. Behutsame Wertschätzung für Symbole und Traditionen. Seit dem ersten Auftritt mit der "Mozzetta" hat Leo XIV. deutlich gemacht, dass er offenbar einen Mittelkurs fahren will: Zwischen dem bisweilen traditions-nostalgisch wirkenden Auftreten von Benedikt XVI. und dem sehr saloppen Umgang, den Papst Franziskus in Fragen der Kleidung und des Protokolls pflegte. Zum neuen Stil von Leo XIV. gehören auch scheinbare Kleinigkeiten wie das Comeback des "Ringkusses" bei Audienzen: Franziskus zog fast immer die Hand weg, wenn jemand ihm den Ring als Zeichen der Ehrerbietung küssen wollte. Leo XIV. lässt es zu. Geändert hat sich auch das päpstliche Brustkreuz: Statt schlichtem Silber ist jetzt auch wieder Gold zu sehen.
5. Ältere Wohnung und moderneres Auto. Im Vatikan laufen Vorbereitungen für eine Rückkehr des Papstes in die päpstliche Dienstwohnung im Apostolischen Palast. Das spart viel Geld: Das Leben von Papst Franziskus im Gästehaus Santa Marta hat laut Medien-Schätzungen rund 200.000 Euro pro Jahr gekostet - sowohl durch entgangene Vermietungseinnahmen als auch durch Kosten für mehr Sicherheitspersonal.
Ferner kann der Papst mit der weithin sichtbaren Wohnung hoch über dem Petersplatz sowohl ein Signal seiner Präsenz in Rom als auch seiner Verbindung zur römischen Kurie setzen, die im gleichen Bauwerk arbeitet. Auch bei der Wahl seines Autos tickt Leo XIV. anders: Während Franziskus meist den Fiat 500L nutzte, fährt Leo gern im dunklen VW Tiguan-SUV (elektrisch); darin findet auch sein Privatsekretär Platz. Einen solchen hat er anders als Franziskus wieder eingeführt.
6. Ein Papst als Teamplayer. Anders als Franziskus scheint Leo XIV. die Kardinäle und vatikanischen Behördenleiter stärker an Entscheidungen beteiligen zu wollen. In seiner ersten Predigt auf dem Petersplatz sagte er, ein Papst dürfe niemals "der Versuchung erliegen, ein einsamer Anführer oder ein über den anderen stehender Chef zu sein (...); von ihm wird verlangt, dem Glauben der Brüder und Schwestern zu dienen, indem er mit ihnen gemeinsam auf dem Weg ist.

Noch ist unklar, wie Papst Leo XIV. das Finanzdefizit des Vatikan stopfen will.
7. Offene Fragen. Bislang hat Papst Leo XIV. noch nicht durchblicken lassen, wie er sich in entscheidenden Fragen, die im Vorkonklave Thema waren, verhalten will. Dazu gehören:
a) Das Finanz-Defizit im Vatikan. Beobachter vermuten, dass die unter Franziskus nur noch spärlich geflossenen Spenden aus den USA unter einem amerikanischen Papst wieder sehr viel reichlicher eingehen werden. Ob das ausreicht, um das Haushalts-Loch zu stopfen, oder ob er auch das bisherige Entlassungs-Veto in der päpstlichen Personalpolitik aufbrechen wird, bleibt abzuwarten.
b) Der ungeklärte Status der Synode. Zwar hat Leo XIV. bekundet, dass er den von Franziskus angestoßenen Weg der Synodalität fortsetzen will. Doch wird von ihm als promoviertem Kirchenrechtler erwartet, dass er die von den Kardinälen im Vorkonklave geforderte bessere Balance zwischen Synodalität und bischöflicher Kollegialität herstelltt.
c) Kommunikations-Strategie. Die unter Franziskus oft unberechenbare Kommunikation durch spontane Interview-Äußerungen scheint dem bisher gezeigten zurückhaltenden Charakter von Papst Leo XIV. nicht zu entsprechen. Was er stattdessen tun wird, ist ungewiss. Fraglich ist auch, wie er mit dem personalintensiven und kostspieligen Medien-Apparat des Vatikans umgehen wird.
d) Professionelle Außenpolitik. Franziskus ging in der Außenpolitik oft mehrgleisig vor: Er agierte manchmal selbst, gelegentlich setzte er informelle Sonderbeauftragte ein, daneben ließ er aber auch die etablierte vatikanische Diplomatie weiter arbeiten. Die meisten Beobachter erwarten von Leo XIV. eine berechenbare, klassische Außenpolitik unter Federführung des Staatssekretariats.
e) Ungeklärte Rechtsfragen. Der Fall des italienischen Kardinals Angelo Becciu, den Papst Franziskus wegen seiner Rolle in einem Immobilienskandal degradierte und dann doch wieder symbolisch begnadigte, ist nur der sichtbarste unter mehreren schwierigen "Fällen", die Leo XIV. geerbt hat. Ein weiterer ist das seit Jahren schwebende Verfahren gegen den früheren Jesuitenpater Marco Rupnik, dem mehrere Ordensfrauen geistlichen und sexuellen Missbrauch vorwerfen.