Sozialethiker: AfD-Wähler sitzen in Kirchenbänken und Gemeindehäusern

Bei der Bundestagswahl hat die AfD auch unter Christen starke Stimmengewinne verzeichnet. Längst ist klar: AfD-Wähler sitzen auch in Kirchenbänken und Gemeindehäusern. Gibt es inhaltliche Überschneidungen mit dem Rechtspopulismus? Wie lässt sich aus dem Glauben heraus gegen rechts argumentieren? Der Sozialethiker Jonatan Burger gibt Antworten.
Frage: Herr Burger, welche gesellschaftlichen und historischen Faktoren begünstigen den Aufstieg des Rechtspopulismus in Deutschland?
Burger: Dafür gibt es ein ganzes Bündel an Ursachen. Deutschland hat ein sehr stark auf Konsens ausgelegtes politisches System. Insbesondere die von Großen Koalitionen geprägten 2000er- und 2010er Jahre haben es erleichtert, dass sich die AfD als radikalen Gegenentwurf zu einem politischen Establishment inszenieren konnte, das politische Meinungskonflikte teils zu wenig abgebildet hat. Auf kulturell-gesellschaftlicher Ebene kann der Rechtspopulismus als eine Reaktion auf ein vermeintliches Übermaß an Öffnung und Liberalisierung verstanden werden. Ökonomisch wird er häufig als Gegenbewegung zur Globalisierung gedeutet. Das gilt übrigens nicht nur mit Blick auf die Wirtschaftspolitik, sondern auch auf die Migrationspolitik.
Frage: Welche Rolle spielt dabei die Religion?
Burger: Die Religion dient als Abgrenzungsmerkmal. Das Christentum wird instrumentalisiert, um das christliche Abendland gegen muslimische Zuwanderer auszuspielen. Religion dient als Feigenblatt. So trugen Gegner der Corona-Maßnahmen 2020/2021 bei ihren Demos in Leipzig demonstrativ Kerzen vor sich her. Sie nutzten die gleiche Symbolik, zu der 1989 die Kirchen bei den Protesten gegen die SED-Diktatur geraten hatten. So sollte dem Corona-Aufstand ein pseudo-christlicher Anstrich und damit Legitimation gegeben werden.

Jonatan Burger hat 2024 seine Promotion mit dem Titel "Rechtspopulismus als Herausforderung christlicher Sozialethik" im Herder Verlag veröffentlicht.
Frage: Sind gläubige Menschen generell weniger anfällig für rechte Parolen oder gibt es unter ihnen konservative Milieus, die besonders gefährdet sind?
Burger: Bei der Bundestagswahl im Februar erreichte die AfD 18 Prozent bei Katholiken und 20 Prozent bei Protestanten gegenüber 24 Prozent bei Konfessionslosen. Es sind also leichte Unterschiede erkennbar. Gleichzeitig müssen wir uns als Christen ehrlich eingestehen: Auch in unseren Kirchenbänken und Gemeindehäusern sitzen AfD-Wähler. Und es stimmt: gerade in konservativen kirchlichen Kontexten gibt es Überschneidungen mit rechtspopulistischen Positionen – etwa beim Familienbild, bei Genderfragen, dem Lebensschutz oder der Frage nach der Zugehörigkeit des Islam zu Europa. Hier gilt es gegenüber möglichen AfD-Wählern dann deutlich zu machen: Welches populistische Politikverständnis unterstützen sie durch ihre Wahlentscheidung, selbst wenn sie mit einzelnen Positionen in der Sache vielleicht übereinstimmen?
Frage: Wie bewerten Sie das Vorgehen der Kirche gegen rechts – etwa die Erklärung der Bischofskonferenz zum völkischen Nationalismus aus 2024?
Burger: Die Erklärung ist ein starkes Zeichen, gerade auch, weil sie einstimmig verabschiedet wurde und in der Folge für viele kirchliche Gremien eine Unvereinbarkeit mit einer AfD-Mitgliedschaft festlegt. Als ähnlich deutliches Signal habe ich auch das Statement des Katholischen Büros in Berlin zur gemeinsamen Abstimmung der Union mit der AfD vor der Bundestagswahl empfunden. Aber wir müssen solche klaren Positionierungen nicht nur medial sichtbar machen, sondern auch vor Ort in die Fläche und Breite tragen. Haupt- und Ehrenamtliche in den Kirchengemeinden brauchen Handlungssicherheit, wenn sie von unterschiedlichen Seiten zu einer Positionierung gedrängt werden: etwa durch die Forderung, sich gegenüber lokalen rechten Akteuren abzugrenzen oder andersherum durch die Ansicht, die Kirche müsse sich parteipolitisch neutral verhalten, auch gegenüber rechten Strömungen. Mit den jeweiligen Situationen vor Ort umzugehen, ist gar nicht so einfach.
Frage: Wie könnte das konkret gelingen?
Burger: Wir müssen den Menschen Wissen an die Hand geben: Was genau ist Populismus? Wie unterscheidet sich eine rechtskonservative, aber demokratisch legitime Position von einer, die demokratiegefährdend ist? Denn um eine Positionierung kommen die Kirchengemeinden vor Ort nicht herum: Selbst wenn sie nichts tun, nehmen das die Menschen wahr – im schlimmsten Fall als stille Zustimmung zu einem gesellschaftlichen Diskurs, der sich immer weiter nach rechts verschiebt. Wichtig erscheint mir aber auch noch ein anderer Aspekt…
Frage: Welcher Aspekt ist das?
Burger: Die Gesellschaft setzt sich ja aus verschiedenen Gruppen, den sogenannten Milieus zusammen. Im "prekären Milieu" versammeln sich Menschen mit sozialen Benachteiligungen, Ausgrenzungserfahrungen und oft auch geringerem Einkommen. In dieser Schicht haben bei der Bundestagswahl 45 Prozent AfD gewählt. Und genau diese Menschen erreicht die katholische Kirche im Moment kaum noch – politische Erklärungen werden da kaum wahrgenommen. Die Frage ist deshalb: Wie bleibt Kirche vor Ort ansprechbar – und schafft es, trotz aller nötigen Strukturreformen, nicht zu weit vom Alltag der Menschen wegzurücken? Wir müssen weiter niedrigschwellig erreichbar sein, um Räume des Austauschs über Milieugrenzen hinweg zu eröffnen. Allzu oft sind Kirchen im ländlichen Raum hierfür ja einer der letzten verbliebenen Player.
Frage: Wie oft ist es ihnen schon begegnet, dass jemand mit dem Bekenntnis als praktizierender Christ am Stammtisch oder der Straßenbahnhaltestelle gegen rechte Sprüche aufgestanden ist?
Burger: Da habe ich unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Bei meinen Vorträgen zum Thema Kirche und Rechtspopulismus sind die Zuhörer oft sehr engagiert und wollen wissen, was sie konkret tun können. Gleichzeitig nehme ich eine gewisse Ermüdung wahr, wenn Menschen berichten, dass sich ihre Gegenüber schlicht nicht mehr auf Argumente einlassen wollen oder es ihnen schwerfällt, immer wieder aufs Neue gegen ein rechtspopulistisches Alltagsklima anzudiskutieren. Dann ist es gut, wenn es kirchliche Räume gibt, um aufzutanken und sich gegenseitig zu bestärken.
„Christen können einen Kontrapunkt bilden gegenüber einer Alltagswahrnehmung, die nur das Negative sieht, nur nostalgisch zurückblickt – und damit rechtspopulistische Alternativen noch attraktiver macht.“
Frage: Was genau unterscheidet denn dem Umgang von Christen und Nichtchristen mit dem Rechtspopulismus und Rechtsextremismus?
Burger: Wir leben – wahrscheinlich zum ersten Mal seit Bestehen der Bundesrepublik – in einer Zeit, die nicht mit einem grundsätzlichen Optimismus, sondern sorgenvoll in die Zukunft schaut. Das ist angesichts der weltpolitischen Lage absolut verständlich. Entscheidend ist es jedoch, in dieser Situation nicht wie der Rechtspopulismus mit Abgrenzung zu reagieren, sondern offen zu bleiben für andere und die Diversität in unserer Gesellschaft. Und da gibt uns der christliche Glaube mit der Botschaft der Auferstehung schon eine Art Hoffnungsbrille, die hilft, mit anderen Augen auf die Dinge zu schauen.
Christen können einen Kontrapunkt bilden gegenüber einer Alltagswahrnehmung, die nur das Negative sieht, nur nostalgisch zurückblickt – und damit rechtspopulistische Alternativen noch attraktiver macht. Wenn Christinnen und Christen sichtbar für eine offene, demokratische Gesellschaft eintreten, kann das auch andere ermutigen: Menschen, die bislang geschwiegen haben, spüren, dass sie nicht allein sind – und finden dadurch vielleicht den Mut, am Arbeitsplatz, im Dorf, im Verein deutlich zu sagen: Ich sehe die Dinge anders.
Frage: Werfen wir einen Blick in die Zukunft: Ist der Rechtspopulismus gekommen, um zu bleiben?
Burger: Im europäischen Vergleich hat Deutschland eine nachholende Entwicklung durchlaufen: Rechte Parteien sind in Ländern wie Österreich oder den Niederlanden schon in den 1990er- und 2000er-Jahren politisch erfolgreich gewesen – bis zur Regierungsbeteiligung. Mittelfristig müssen wir also davon ausgehen, dass auch die AfD sich im Bundestag etabliert. In dieser Situation ist der Umgang der demokratischen Parteien, insbesondere der Union, mit der AfD entscheidend. Wenn CDU und CSU sich konsequent von den rechtspopulistischen Kräften abgrenzen und nicht – wie in anderen Ländern – den strategischen Fehler machen, auf Kooperation zu setzen, könnte das ein stabilisierender Faktor für die Demokratie sein. Nur durch eine Abgrenzung kann verhindert werden, dass die beiden bürgerlichen Parteien rechts der Mitte von den Populisten zerstört und quasi aufgesogen werden.
Frage: Gerade liefern sich der Verfassungsschutz und die AfD einen Rechtsstreit über deren Einstufung "gesichert rechtextrem". Sie sprechen in Ihrer Arbeit durchgehend von Rechtspopulismus. Was genau ist der Unterschied?
Burger: Vereinfacht gesagt: Das Problematische am Rechtsextremismus ist die Hierarchisierung von Menschengruppen, also etwa sogenannte Bio-Deutsche über Menschen mit Migrationshintergrund zu stellen und die Rechte von letzteren zu missachten. Das ist mit einer Demokratie unvereinbar. Das Gefährliche am Rechtspopulismus ist hingegen, dass dieser – zunächst innerhalb der demokratischen Ordnung – postuliert, es gebe etwa in der Einwanderungspolitik nur eine richtige politische Lösung, welche die Eliten böswillig missachteten. Auch so sollen letztendlich Gruppen aus der Bevölkerung ausgeschlossen werden. Die Übergänge sind aber oftmals fließend. Die AfD hat sich in den vergangenen Jahren sukzessive radikalisiert – von einem eurokritischen Wettbewerbspopulismus 2013 über rechtspopulistische Kritik an der Migrationspolitik bis hin zu rechtsextremen Vorstellungen, wer vermeintlich nicht zum deutschen Volk gehört, in ihren Reihen.
Zur Person: Jonatan Burger ist Theologe. Seine Promotion mit dem Titel "Rechtspopulismus als Herausforderung christlicher Sozialethik" ist 2024 im Herder Verlag erschienen. Burger arbeitet als Referent der Katholischen Akademie des Bistums Dresden-Meißen und ist dort unter anderem an der Produktion des Podcasts "Mit Herz und Haltung" beteiligt. Seit 2023 ist er zudem Dekanatsreferent in der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Er ist auch Autor für den theologischen Blog y-nachten.de