Forscherin: Missbrauch bei Kirche besonders problematisch

Die Leiterin der Missbrauchsstudie im Bistum Speyer, Sylvia Schraut, sieht sexuellen Missbrauch in kirchlichen Einrichtungen als besonders problematisch an. Die Historikerin sagte dem SWR am Donnerstag: "Grundsätzlich muss man sagen, dass es in dieser Zeit – in den 1950ern, 60ern und frühen 70er-Jahren – eigentlich in allen Kinderheimen viel Machtmissbrauch, zum Teil auch sexuellen Missbrauch gab. Aber natürlich ist die Fallhöhe in kirchlichen Heimen besonders hoch".
Kinder, die damals Missstände aus katholischen Einrichtungen meldeten, seien häufig bestraft worden: "Wenn ein Kind aus einem Heim damals zum Jugendamt gegangen ist und sagte, was passiert ist, dann hat es eine Ohrfeige gekriegt und ist zurückgeschickt worden", schildert Schraut. Gewalt und Demütigung seien gesellschaftlich akzeptiert gewesen – und insbesondere dort, wo Kontrolle fehlte, hätten sich Täter ungehindert austoben können.
Im Bistum Speyer habe es damals an Kontrolle gemangelt, ergänzt durch eine kirchliche Sexualmoral, die Gespräche über Übergriffe nahezu unmöglich machte, so Schraut. Kinder hätten kaum eine Chance gehabt, sich Erwachsenen anzuvertrauen. Auch kirchliche Strukturen boten kaum Schutz – Kontrollmechanismen, wie sie heute in der katholischen Kirche bestünden, fehlten völlig.
Bis heute nicht geschlossene strukturelle Lücke
Besonders kritisch sei zudem der Umgang mit eigenständigen Ordensgemeinschaften in der kirchlichen Verwaltung gewesen. Viele Heime hätten ein starkes Eigenleben entwickelt und sich keiner Aufsicht durch das Bistum unterstellt gefühlt. Ordensgeführte Einrichtungen seien ausschließlich dem päpstlichen Recht verpflichtet gewesen – eine strukturelle Lücke, die bis heute nicht vollständig geschlossen sei, so die Wissenschaftlerin.
Zudem seien viele Ordensleute nur kurzzeitig im Bistum tätig gewesen – ohne systematische Überprüfung und mit großen persönlichen Freiräumen. Das Ergebnis: Eine Atmosphäre, in der sich niemand wirklich zuständig fühlte – und in der Schutzbefohlene vielfach schutzlos blieben.
In der 473-seitigen Studie heißt es, fehlende Machtkontrolle und autoritäre Amtsausübung hätten jahrzehntelang Missbrauch und sexualisierte Gewalt durch Priester, Ordensleute und kirchliche Mitarbeiter im Bistum ermöglicht. Die Untersuchung hat Personalakten und weitere Aufzeichnungen des Bistums für die Zeit von 1946 bis in die Gegenwart ausgewertet und kommt so zu einer Gesamtzahl von 109 Priestern und 41 Nichtklerikern, die des Missbrauchs oder sexueller Übergriffe beschuldigt wurden.
Als einen "Hotspot" für Übergriffe bezeichnet die Studie kirchliche Heime für Kinder und Jugendliche. Die Universität Mannheim kündigte an, innerhalb des auf vier Jahre angelegten Forschungsprojekts 2027 einen zweiten Bericht zu veröffentlichen. Darin soll es um konkrete und detaillierte Fallanalysen gehen.

Hatte 2020 Vorwürfe gegen den ehemaligen Generalvikar Motzenbäcker öffentlich gemacht: Bischof Karl-Heinz Wiesemann.
Die Leiterin der Missbrauchsstudie erklärte weiter, dass in dem bis 2027 geplanten zweiten Teil der Untersuchung einige brisante, "typische Fälle" näher analysiert werden. Als Beispiel nannte die Historikerin "Missbrauchsvorwürfe gegen Nonnen und Mitarbeiter des Kinderheims in der Engelsgasse" in Speyer. Das Kinderheim wird in dem am 8. Mai vorgestellten ersten Teil der Studie als einer der "Missbrauchshotspots" der 1950er und 1960er Jahre bezeichnet.
Schraut verwies auch auf Missbrauchsvorwürfe gegen den früheren Generalvikar Rudolf Motzenbäcker, "der ja schon vor Jahren geoutet" worden sei. Im Dezember 2020 hatte der Speyerer Bischof Karl-Heinz Wiesemann Missbrauchsvorwürfe gegen Motzenbäcker öffentlich gemacht und betont, dass er sie für glaubwürdig hält. Drei Betroffene hätten unabhängig voneinander berichtet, zwischen 1963 und 1975 von Motzenbäcker über längere Zeit missbraucht worden zu sein. Der 1998 verstorbene Priester war von 1959 bis 1968 Generalvikar und von 1969 bis 1995 Offizial, also oberster Jurist im Bistum.
Wissen, aber wegschauen
Schraut sagte weiter, es werde auch um "typische Konstellationen" von Missbrauch in den Gemeinden gehen. Ein Begriff aus der Nationalsozialismus-Forschung sei "Bystander" (Zuschauer). Damit seien jene gemeint, die wegschauen, aber etwas wissen. "Davon erzählen viele Betroffene. Das kann man sehr gut zeigen", sagte Schraut. Sie fügte hinzu: "Wir hinterfragen auch die Rolle der Jugendämter. Und wir werden einen Heimleiter nehmen und zeigen, wie – wenn von oben der Kopf stinkt – eine Einrichtung verkommt, im Kontext des Themas sexuelle Gewalt." Das könne man nicht "flächendeckend machen, man kann das nur an Einzelbeispielen vertieft zeigen".
Heute sei im Bistum Speyer der Wille da, sicherzustellen, "dass Vorwürfe nicht versickern", so Schraut. Es gebe entsprechende Wege. "Wenn etwa eine Missbrauchsmeldung bei der Interventionsbeauftragten im Bistum einläuft, wird automatisch die Staatsanwaltschaft informiert." Doch Schraut fragte: "Aber was ist beispielsweise, wenn ein Pfarrer, der beschuldigt war, in Rente geht und sich in einer ganz anderen Gemeinde niederlässt und dort ein bisschen aushilft? Kann da die Gemeinde informiert werden, dass da ein Verdacht vorliegt?" Da komme der Datenschutz ins Spiel und "da wird noch darum gerungen, Lösungen zu finden". (cbr/KNA)
30.05.2025, 15 Uhr: Ergänzt um weitere Details zum zweiten Teil der Missbrauchsstudie.